TOMORROW YOU WILL LEAVE

Ein Film von Martin Nguyen

Als mir mein Vater das erste Mal von Ali erzählte, war er den Tränen nahe, die er versuchte mir gegenüber zurückzuhalten. Er war sichtlich bewegt, als ob er das Erzählte noch einmal durchleben musste. Ich war überrascht und fasziniert zugleich, diese unerzählten Geschichten entdeckt zu haben. Es schien, dass all dies verborgen lag, bis jemand gefragt hatte. Bis ich gefragt habe. Es plagt ihn sichtlich nicht das Versprechen eingelöst zu haben, das er Ali gegeben hat: ihn wissen zu lassen, falls er es schaffen würde. Die Suche nach Ali ist der Versuch ein Kapitel der Vergangenheit zu schließen. Die Möglichkeit „Danke“ zu sagen, um diese erste Hilfe und all das, was daraus erwachsen ist, symbolisch zurückgeben zu können.

Bei meiner Recherche traf ich Rosli Mohamad, einen ehemaligen Sozialarbeiter aus dem Camp Pulau Bidong. Er erzählte mir die Geschichte eines kleinen Mädchens mit einem gelben Kleid. Ihr hatte Rosli einst ebenfalls geholfen, doch über ihr weiteres Leben blieb er im Dunkeln. Ich musste sofort an Ali denken: Hat er ebenfalls nie aufgehört über das Schicksal meiner Eltern nachzudenken?

Meine Eltern konnten sich in Österreich ein neues Leben aufbauen und denen, die ihnen geholfen haben, können sie zum Teil wieder etwas zurückgeben. Es ist ein respektvolles Verhältnis, das sie zu ihnen pflegen, aber es scheint, dass dennoch etwas fehlt, um einen Schritt weiter in ihrem Leben in Österreich zu gehen: Das Abschließen der Vergangenheit. „Ali“ stellt für meinen Vater die durch die Jahre geformte Idealisierung von Hilfe dar. Er war der Erste. Mein Vater spricht manchmal von Glück, das sie durch ihr Schicksal geführt hat. Ali und seine Unterstützung waren ein Teil dieses Glücks, das sie zu ihrem heutigen Leben geführt hat. Im Vordergrund der Reise nach Malaysia steht die gemeinsame Suche meiner Eltern nach Ali, nach der Vergangenheit. Meine Mutter und mein Vater kehren gemeinsam mit mir an Orte von Leid, aber auch Hoffnung zurück. Es ist dabei nicht von tragender Rolle für den Film, dass Ali als Person gefunden wird. Es sind beide Varianten möglich: Das emotionale Wiedersehen mit Ali, oder das endgültige Loslassen vergangener Zeiten, wenn er etwa nicht mehr am Leben ist und wir nur mehr auf Verwandte treffen.

Neben der persönlichen Reise meines Vaters ist es natürlich auch ein Entdecken meiner eigenen Geschichte. Ich kehre zu dem Ort zurück, an dem ich geboren wurde und mit dem ich automatisch verknüpft werde, obwohl ich selbst keinen Bezug zu dem Flüchtlingslager habe. Was mussten meine Eltern zurücklassen bzw. opfern, um dort zu sein wo sie heute sind? Das, was ich dort freilege ist auch eine Entdeckung für den Zuschauer selbst. Es geht darum einen Blick hinter ein Flüchtlingsschicksal zu werfen, das vielleicht manche klischeebehafteten Vorstellungen in Frage stellt und dem gängigen Bild von Migranten und Flüchtlingen entgegenwirkt.

Mein Vater steht dem Dokumentarfilmprojekt sehr offen gegenüber und unterstützt mich, während meine Mutter scheu und zurückhaltend agiert. Durch dieses unterschiedliche Verhalten wird das Vertrauen, das mein Vater mir entgegenbringt noch stärker, während die Zurückhaltung meiner Mutter umso verständlicher wirkt. Niemand spricht gerne über eine schmerzvolle Vergangenheit, die man für ein Leben in Sicherheit hinter sich gelassen hat.

Martin Nguyen